Stiller Stuhl

Zur Zeit muss ich ziemlich viel schweigen. Irgendwie fühle ich mich, als ob man mich zu einem "stillen Stuhl", einer Auszeit verdonnert hätte. Ich sitze in der Schweizerischen Nationalbibliothek und blättere durch die Ausgaben des "Blick" vom Juni 2006. Und schweige. Und codiere Artikel, die Jugendliche betreffen, ins SPSS. Und schweige. Notiere mir Eindrücke. Stelle mein Kategoriensystem um. Und schweige. Bewundere die neuen roten Gratis-Bleistifte, die vor zwei Jahren noch weiss waren (als sie noch Schweizerische Landesbibliothek hiess). Fülle Leihscheine aus. Überlege. Und schweige.
Kein Internet, das mich ablenkt, kein nerviges Handyphonieren anderer Leute. Ich sitze in der Mitte eines grossen, hellen Raumes und komme mir trotz Menschen um mich rum ganz allein vor. Nur das Laptop surrt vor sich hin. Irgendwie ungewohnt. Aber irgendwie schön. Keine Hektik bei der Arbeit, kein Gedränge in der Stadt, kein Bremsen, Geschreie, Baulärm. Kein Geraschel von Zeitungen oder Butterbrotpapier, kein Getuschel, Gepiepse und Kaugummigeknatsche, keine SMS-Tipperei wie in den Vorlesungen. Keine Getränkeflaschen, die dauernd geöffnet und geschlossen werden wie in den Seminaren. Keine Weiber, die sich nebenan Hände eincremen, Nägel feilen oder Lippenpomade verteilen.
Manchmal muss man sich wieder einmal an einem Ort der Ruhe begeben, um zu merken, wie "lärmlastig" unser Leben ist. Ich denke immer wieder daran, wenn ich draussen im Wald bin oder am See. Aber das kommt immer seltener vor, je älter ich werde. Zuviel Hektik, zuviel Stress, zuviel Lärm Jetzt verstehe ich, wieso sich manche so gerne eine Auszeit in einem Kloster nehmen. Für mich reicht momentan aber auch eine Bibliothek.

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